Der „Neckermann von Steinheim“

Mein Urgroßvater Karl war Schmied und meine Urgroßmutter verkaufte in unserer späteren Küche Mehl, Zucker, Puddingpulver, Waschpulver und was sonst noch für den täglichen Bedarf nötig war.

Als meine Mutter 1947 einen Kaufmann und keinen Bauern heiratete, war klar, womit sich das junge Paar in Zukunft seine Brötchen verdienen würde. Die Schmiede wurde zu einem Ladengeschäft umgebaut, aus dem bisherigen Verkaufsraum wurde eine Gemeinschaftsküche für drei Generationen. Der Dorfname war auch gleich gefunden, denn es war ja beim Schmied Karl, wo man jetzt einkaufen ging und da mein Vater „Schmidt“ mit Nachnamen hieß, ging es von nun an zu „Schmidtskarls Adolf“.

 

Mein Vater hatte im Textilgroßhandel in Gießen gelernt, also wurde das Sortiment in diese Richtung erweitert. Außerdem gab es weiterhin Nägel, Schrauben, Kuhketten, Ofenrohre, Hacken, Stiele, alles was man für Vieh, Feld und Garten brauchte. Durch den Aufschwung der 50er Jahre war auch dieser Verkaufsraum bald zu klein und 1956 war der „neue Laden“ fertiggestellt. Eine moderne Ladeneinrichtung, eine Abteilung für Textil- und Kurzwaren, Wolle zum Stricken, Stoffe, Schreibwaren und nun auch noch zusätzlich Glas- und Porzellanwaren – unser ganzer Stolz.

 

Wir wurden bald der „Neckermann von Steinheim“ genannt.

Es wurde versucht, die Kunden bei den Lebensmitteln an Selbstbedienung zu gewöhnen, aber da es auch noch zwei Theken gab, ließen sich die Leute lieber bedienen (wir hatten inzwischen auch noch Käse und Wurst im Programm).

Die Theke bei den Lebensmitteln hatte große Schubladen, darin waren Mehl, Zucker, Reis und Nudeln. Außerdem gab es noch eine Reihe mit verschiedenen Fächern, in denen Papiertüten in unterschiedlichen Größen standen. Für 250 Gramm und kleiner gab es Spitztüten, ab 500 Gramm waren die viereckigen Tüten mit Faltboden. Die kleinsten spitzen Tüten waren für die Bonbons bestimmt, die in Glasgläsern auf einem Drehregal auf ihre Kunden warteten. Es gab Schaufeln in verschiedenen Größen, mit denen die losen Lebensmittel eingefüllt wurden. Auf der Theke stand die Waage, daneben diverse Gewichtssteine, die eingesetzt wurden, wenn mehr als ein Kilo abgewogen wurde. Öl und Essig waren in großen Behältern aus Aluminium mit einem Zapfhahn, von dem dann mithilfe eines Trichters die Essenz in die Flaschen gefüllt wurde. Senf gab es ebenfalls lose, er wurde aus einem Keramikbehälter durch einen Pumpvorgang ins Glas gefüllt. Ob die Gläser immer gleich groß waren und wie mein Vater den Preis berechnete, weiß ich heute nicht mehr.

Im Winter gab es Sauerkraut lose im großen Eimer. Das wurde dann nach Gewicht verkauft. Die Kunden brachten ihre Schüsseln mit, die wurden leer gewogen und dann kam das Sauerkraut hinein. Bei Rollmöpsen war es genauso.

 

 

In den 50er Jahren war Ladenschluss ein Fremdwort.

Die Leute kamen, wann es ihnen gerade passte, auch am Sonntagmorgen. Ein ungestörtes Mittagessen war Seltenheit, denn immer hatte irgendwer irgendetwas vergessen. Ich erinnere mich an eine Kundin, die viele Jahre an Heiligabend oft noch gegen 18.00 Uhr kam und ihre Weihnachtsgeschenke kaufte. Diese wurden dann auch noch schön von meinem Vater verpackt. Eine andere Geschichte aus dieser Zeit hat mir kürzlich eine ältere Dame erzählt: Der Schnuller ihrer kleinen Tochter war verschwunden und als diese nachts nicht mit dem Schreien aufhörte, stand der Vater auf, zog sich an und klopfte meinen Papa aus dem Bett. Mit einem neuen Schnuller versorgt, konnte es dann auch für diese Familie eine ungestörte Nachtruhe geben.

Meine Großmutter fand, nachdem sie früh Witwe geworden war, bei uns im Geschäft ihren neuen Lebensinhalt. Sie wurde die Seele des Unternehmens. In der Zwischenzeit verkauften wir auch Zeitungen und so stand sie schon ab 6.15 Uhr vor der Ladentür und reichte den zur Arbeit Fahrenden die BILD-Zeitung durchs Autofenster.

Unser erstes Auto war ein grüner DKW-Kleinlaster mit Sitzbänken, die man auch ausbauen konnte. Damit fuhr mein Vater nach Gießen um neue Textilien, Kurzwaren, Porzellan, Eisen- und Papierwaren zu kaufen. Er war dann den ganzen Tag unterwegs. Zuerst gab er bei den verschiedenen Großhändlern seine Bestellung auf, dann ging es in gleicher Reihenfolge zur Abholung der Pakete zurück. Meine Mutter gab ihm immer Brote mit und meine Schwester und ich warteten abends, ob Papa „Hasenbrot“ von Gießen mitbrachte. „Hasenbrot“ wohl deshalb, weil er „über Feld“ gefahren war.

Gab es in einer Familie im Ort einen festlichen Anlass, zu dem ein neuer Anzug gebraucht wurde, so nahm mein Vater die betroffene Person mit Anhang mit nach Gießen zu den Großhändlern. Dort konnten sie sich dann in der reichhaltigen Auswahl das Passende aussuchen.

Zur Bestellung der Lebensmittel kamen die Vertreter der Lieferfirmen zu uns nach Hause. Das Schriftliche wurde meistens am Küchentisch erledigt, oft gab es dann auch noch ein Mittagessen oder Kaffee und Kuchen. So entstanden auch manche persönliche Freundschaften. Ein besonderes Highlight war es, wenn die Vertreter der beiden großen Frankfurter Textilfirmen mit der Sommer- und Winterkollektion kamen. Sie hatten zehn oder zwölf große Koffer im Auto und jedes Teil wurde begutachtet und dann der Auftrag erteilt. Das dauerte den ganzen Tag, also war auch hier Verköstigung angesagt. Zweimal im Jahr gab es einen Familienausflug mit geschäftlichem Hintergrund nach Frankfurt an den verkaufsoffenen Messesonntagen des Großhandels. Die beiden Firmen, die uns belieferten, befanden sich in der Elbestrasse und in der Weserstrasse, so dass ich schon früh das Frankfurter Bahnhofsviertel kennenlernte.

Wir waren damals eine wichtige Institution in unserem Dorf. Versorgungszentrum und Informationsaustauschzentrale. Hier traf man sich auf ein Schwätzchen, erfuhr den neuesten Klatsch, ob jemand gestorben war oder ein Kind bekommen hatte. Ich habe gerne im Laden mitgeholfen, hätte das Geschäft später auch gerne weitergeführt. Aber zuerst kamen die Versandkataloge, später die Supermärkte, die Menschen wurden mobiler und ich sah keine Zukunft mehr für unseren Laden, den ich dann Ende 1989 schließen musste.

 

Bericht und Fotos: Annelie Schneider